Schneller auf den KI-Zug aufspringen und Bremsklötze lösen?


Digitalverband Bitkom ruft die „Dekade der Digitalisierung“ aus – neuer Präsident Ralf Wintergerst stellt 2023er-Umfrage zum Stand der Digitalisierung der Wirtschaft vor – eine Einordnung (Meinung)
Künstliche Intelligenz ist auch bei Service-Robotern immer häufiger mit unterwegs. – Photocredit: Annegret Handel-Kempf

Von Annegret Handel-Kempf

Die generative KI-Anwendung ChatGPT als „Brain“ des Unternehmens, umsichtig agierende Roboter als ausführende Arbeitskräfte. Und ein paar Manager, die während einer Pause am Golfplatz einen Blick auf den digitalen Zwilling ihres vernetzten Unternehmens werfen, um zu checken, ob alles noch rund läuft: So etwa stellt sich die Zukunft von Industrie und anderen Betrieben in den Köpfen vieler Menschen, die sich in den sozialen Medien äußern, aktuell dar.

Fragt man, wie jüngst der Digitalbranchen-Verband Bitkom, in 602 deutschen Unternehmen mit 20 und mehr Mitarbeitern genauer nach, wie es um die Wahrnehmung der Digitalisierung der Wirtschaft bestellt ist, verfeinert sich das Bild. Unterm Strich, um es mit den Worten des neu gewählten Bitkom-Präsidenten Ralf Wintergerst zu sagen, zu einem eindeutigen: „Nicht richtig gut, nicht richtig schlecht.“

Die neue Stimme des Digitalverbands Bitkom war bei der Vorstellung einer Verbandsbefragung zur Lage der Digitalisierung der Wirtschaft erstmals zu hören: Im Juni 2023 wurde Dr. Ralf Wintergerst in Berlin zum Bitkom-Präsidenten und Nachfolger von Achim Berg gewählt. Bereits seit 2019 vertritt er im Präsidium des Verbands als Vorsitzender der Geschäftsführung und Group CEO die Giesecke+Devrient GmbH, einen weltweit tätigen Konzern für Sicherheitstechnologien.

Das liegt der Wahrnehmung der Befragten zufolge vor allem am Fachkräftemangel (77 Prozent gegenüber 71 Prozent im Vorjahr) und am Datenschutz (64 gegenüber 55 Prozent) als Bremsklötzen, die sich in den Köpfen immer mächtiger anfühlen: „Wenn wir da nicht anfassen, werden bestimmte Dinge in andere Länder verlagert werden. Das sehen wir jetzt schon“, sagt Wintergerst, dessen Verband auch für digitale Bildung, Politik und das Netzwerken der Unternehmen untereinander zuständig ist.

Destination Digitalisierung

Mit dem Wollen allein ist es bei der Transformation zur Moderne nicht getan: Mit 54 Prozent gaben elf Prozent mehr Unternehmen als im Vorjahr an, dass ihnen die Mittel für die Digitalisierung fehlten. Während 87 Prozent der Befragten sich überzeugt zeigten, dass die Nutzung digitaler Technologien eine entscheidende Rolle für die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft spielt, beklagten 76 Prozent der befragten deutschen Unternehmen, dass – nun ja – deutsche Unternehmen digitale Technologien zu wenig einsetzen.

Angst vor Wettbewerbern auf dem digitalen Schnellzug

Es geht um nicht weniger als darum, womöglich den Anschluss an ihre digitalen Wettbewerber zu verlieren. Eine deutliche Mehrheit, das sind 60 Prozent der Unternehmen, sieht aktuell Wettbewerber voraus, die frühzeitig auf die Digitalisierung gesetzt haben. So viel wie noch nie.

Vor einem Jahr bedauerten erst 52 Prozent der Unternehmen, ihre digitalen Wettbewerber davonziehen zu sehen. Vor fünf Jahren sahen die Entscheider die digitalen Dinge noch viel lockerer, weshalb lediglich 37 Prozent konstatierten, den digitalen Anschlusszug verpasst zu haben. Das eigene Unternehmen halten derzeit zwei Drittel (64 Prozent) für einen Nachzügler bei der Digitalisierung. Ein Drittel der Unternehmen sieht sich in der Digitalisierung eher vorne. „Wir haben Vorbilder bei den Unternehmen, denen man folgen kann“, streicht Wintergerst das Positive heraus. Nur noch jedes neunte Unternehmen sei ohne Digitalstrategie. Das habe sich „sehr, sehr gut entwickelt“.

Risiken und Nebenwirkungen

Ein hoher Prozentsatz von 82 von Hundert der Befragten behaupten, die Politik der Bundesregierung bremse die Digitalisierung ihres Unternehmens aus. Auch wenn Fachkräftemangel und Anforderungen des Datenschutzes nur bedingt Sache der Exekutive des Nationalstaates sind. Und Datenschutz, so wichtig er ist, für die Investitionen von Zukunftstechnologien in der ganzen Europäischen Union gegenüber Ländern wie China ein Problem darstellt.

Dennoch werden aus Aktenbergen viel zu gemächlich Datenflüsse. Auch in den Amtsstuben in Berlin und der Bundesländer. Obwohl auf Bundes- und Landesebene Digitalressorts und -ministerien geschaffen worden sind, sagen 54 Prozent, die Politik versuche, den Einsatz digitaler Technologien eher zu verhindern als zu fördern. Wobei 46 Prozent angeben, dass sie in ihrem Unternehmen eher über Risiken als über Chancen diskutierten.

Dichter, Denker und Digitalisierer?

Das Bild von den trägen Stuben trägt der Nachfolger von Achim Berg hin zu einer Forderung nach einem digitalen Jahrzehnt. Von dem genau genommen, schon dreieinhalb Jahre vorbei sind. „In der Vergangenheit war Deutschland das Land der Dichter und Denker. In Zukunft muss Deutschland das Land der Dichter, Denker und Digitalisierer sein“, sagt Ralf Wintergerst.

Einschränkungen hätten uns nicht zum Land der Dichter und Denker gemacht, erläutert der neue Bitkom-Chef den Knackpunkt. Er fordert jedes einzelne Unternehmen wie die deutsche Wirtschaft gesamt auf, die Digitalisierung schnell voranzubringen. Wintergerst erwähnt, als er die 2023er-Bitkom-Studie zur Digitalisierung der Wirtschaft präsentiert, übrigens auch die „Digitalisiererinnen“. Und erinnert daran, dass die Dekade auch weiblich werden solle. – Ist „die“ Dekade streng genommen ja schon. Aber das wäre jetzt so ein Einwand, wie ihn die KI als kleine Konversationsauflockerung von sich geben würde.

Künstliche Intelligenz spaltet. Auch die Unternehmen. Dabei gibt es KI schon lange, zumindest als Aushängeschild in vielerlei Formen, die nichts mit KI nach strenger Definition zu tun haben. Doch die Definition ist egal, wenn sich Algorithmen selbst weiterbilden, Zusammenhänge erkennen und viel bewirken, etwa in der Medizin. Wenn sie als generative KI aber auch großblumig Dargestelltes halluzinieren können, also nur so tun, als würden sie nachvollziehbare Fakten berichten. Es geht um einen „Game Changer“, mit guten und schlechten, sympathischen und besorgniserregenden Seiten, wie es mit Spielern und Spielveränderern oder gar Spielverderbern halt so ist.

Einsatzszenarien für KI nehmen rasant zu

„Wohl noch nie gab es eine Phase, in der so viele neue Technologien so rasend schnell zum Einsatz kamen. KI erschafft Texte, Bilder und Musik. Sie erstellt Programmcode, entwickelt Arzneimittel oder konstruiert Maschinen. Jede und jeder kann die Einsatzfelder der KI selbst ausprobieren, fast täglich lesen und hören wir von neuen, spektakulären Entwicklungen“, sagt Wintergerst. „Der Einstieg in die KI wird immer leichter und einfacher. Vom Handwerksbetrieb bis zum Milliardenkonzern: Sinnvolle Einsatzszenarien gibt es für KI ausnahmslos überall.“

Dennoch meinen 16 Prozent, dass KI für sie nie relevant sein werde. „Das darf man hinterfragen“, sagt der neue Bitkom-Chef dazu. „Es gibt bei uns Digitalisierungschampions, aber Innovation auf die lange Bank zu schieben, ist nie eine gute Option.“ Ein Drittel der Befragten sieht es sogar als ein Risiko, Künstliche Intelligenz im eigenen Unternehmen einzusetzen.

Bitkom-Chef hofft auf verändertes Bild von KI

Ein Viertel der Unternehmen, die sich äußerten, also 25 Prozent, gehen davon aus, KI erst in mehr als 20 Jahren einzusetzen, 29 Prozent erwarten den Einsatz in einer eher fernen Zukunft in zehn bis 20 Jahren. Im kommenden Jahr will dagegen nur ein Prozent KI einführen, drei Prozent in ein bis zwei Jahren, elf Prozent in zwei bis drei Jahren und drei Prozent in drei bis fünf Jahren. Acht Prozent erwarten dies in fünf bis zehn Jahren.

Wintergerst: „Das Bild von KI sollte sich in den kommenden Monaten verändern. KI kann einen enormen Innovations- und Effizienzschub auslösen. Je mehr KI-Anwendungen auf den Markt kommen, desto mehr Unternehmen sollten und – das ist meine Hoffnung – werden sie sich zu Nutze machen.“

Obwohl Experimente mit KI-Anwendungen derzeit „in“ sind und Moderationen, Bücher oder gar Reifeprüfungen testhalber an die Künstliche Intelligenz und deren Sammelleidenschaft zu vorhandenen Textstellen und anderen Daten im Internet überantwortet werden, gehen nur 49 Prozent davon aus, dass Unternehmen, die KI frühzeitig einsetzen, dadurch einen Wettbewerbsvorteil gewinnen. Allen erhofften Einsparungen – von 45 von Hundert der Befragten geäußert – zum Trotz, glauben 44 Prozent nicht an Vorteile gegenüber der Konkurrenz im Markt.

Künstliche Intelligenz als Mittel gegen Fachkräftemangel

Bei einer der zwei postulierten Haupt-Digitalisierungsbremsen dürfte die Künstliche Intelligenz der abgefragten Wahrnehmung zufolge helfen: 41 Prozent meinen, durch KI die bestehende Fachkräftelücke zumindest teilweise schließen zu können. Mehr als jedes vierte Unternehmen (26 Prozent) sieht in KI eine Möglichkeit, komplett neue Geschäftsmodelle zu entwickeln. – Kein Wunder, denn es finden sich auf dem Markt derzeit manche, die sich „KI-Berater“ nennen, auch wenn sie sich teils selbst erst jüngst mit deren aktuellen Anwendungsmöglichkeiten etwas vertraut gemacht haben. Künstliche Intelligenz ist ein weites Feld. Sicherheitsaspekte sollten auf jeden Fall gut durchdacht werden. Von Menschen.

Übrigens gibt es auch Bücher über Künstliche Intelligenz, die KI geschrieben hat: „Selbst“, aus Vorhandenem zusammengesetzt. Künstliche Intelligenz ist kein Urheber. Und auch keine klassische Intelligenz. Mit Vorsicht und menschlichem Bedacht genossen und als Hilfsinstrument genutzt, bewirkt sie sicherlich manches.

Und so löst Künstliche Intelligenz vielleicht doch schon bald Wellen zur Transformation der deutschen Unternehmen hin zur Digitalisierung aus, die sich so manche jetzt noch nicht recht vorstellen können oder mögen.

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