Novak Djokovic und die magische 22: Schmerzhafte Träume vom Großsein

Tennisball.

Novak Djokovic möchte „The GOAT” werden, der größte Tennisspieler aller Zeiten. Sogar sein unterlegener Rivale im Finale der Australian Open, Stefanos Tsitsipas, lobt ihn im Moment der Niederlage als den „Größten“. Dabei ist das Ringen um adäquate Anerkennung und Selbsteinschätzung bei den „Alten“ und Jungen im Tenniszirkus der Zeit nach der Jahrtausendwende noch längst nicht entschieden. Manches wirkt bizarr. So wie die Szenen von Sieg und Ehren nach „Noles“ 22. Grand-Slam-Titel.

Die Jacke, die Novak Djokovic überzieht, nachdem er in karierten Shirts sein 41. Match in Folge in Australien gewonnen hat, ist weiß und glitzert auf der Brust. Unübersehbar prangt dort eine große „22“. Der große Traum des „Djokers“ ist wahr geworden. Siegerehrung in Melbourne, zum Abschluss der Australian Open 2023. Der Zeitpunkt, zum 22. Mal in seiner Karriere eine Grand-Slam-Trophäe in den Himmel über einem großen Center Court zu stemmen.

Obwohl er lange nicht mehr vom Boden in der Box von Familie und Team aufgestanden war und liegend eine Minute lang schluchzte, hat sich der 35-Jährige nun doch für die Feier seines Championats gewandet und Kraft für seine Rede zurückgewonnen:

Das war eine meiner größten Herausforderungen in meinem ganzen Leben, dieses Turnier“, sagt er etwa. Und betont dabei das „Zurückzukommen“, nachdem er vergangenes Jahr „nicht hier“ gewesen sei.

Und das kam so: Novak hatte sich nicht an die Regeln des Gastgeberlandes gehalten. Er war ungeimpft eingereist. Deshalb flog der „Djoker“ sehr schnell aus diesem wichtigen Schnipsel des Tenniskosmos.

Boris Becker kommentiert das ein Jahr später so: „Gesundheit geht ihm vor die Tenniskarriere. Das ist beachtlich für einen, der dabei ist, der Größte aller Zeiten zu werden.“

Will „Nole“ geliebt werden?

Das Zurückkommen nach dem schmachvollen Abgang zwölf Monate zuvor war sicherlich nicht einfach. Deshalb bedenkt „Nole“ in der Situation seines Triumphs auch diejenigen besonders, die ihn „willkommen“ geheißen haben.

Freundlich mit ihm umzugehen, das macht der „Djoker“ seinen Anhängern und seinem Team nicht immer leicht. Wie er auch selbst zugesteht. Im Finale hatte er seinen verdutzten Trainer angeschrien. Bei der Siegerehrung entschuldigt er sich bei Ivanisevic, Team und Familie für die explosive Seites seines Charakters.

„Goran, was Du alles mit mir neben dem Platz ertragen musst. Diese Trophäe ist eure.“

Novak Djokovic, Australian Open 2023

Novaks einstiger Coach-Berater Becker, frisch zurück von seiner „Auszeit“, wie er sie nennt, aus englischen Spezialunterkünften, wirbt im Turnierverlauf dennoch unverdrossen um Sympathien für seinen ehemaligen Schützling.

Unverständis kennzeichnet die Kommentare des einst jüngsten Wimbledon-Siegers bei diesen Australian Open. Auch darüber, dass Djokovic eigentlich drei Jahre nicht mehr nach Australien hätte einreisen sollen, nachdem sein Visum 2022 zurückgewiesen worden war.

So sagte Becker, während er für einen Fernsehsender Novaks Zweitrundenduell mitkommentierte:

„Jeder will geliebt werden. Seien wir mal ehrlich, das kann keiner verstehen, dass Novak Djokovic DEPORTIERT wird von Australien.“

Boris Becker auf Eurosport, Januar 2023

Was lässt sich über mentale Stärke sagen?

Zehn Mal trat der Serbe zum Finale bei den Australian Open an, zehn Mal gewann er die Endspiele des „Großen Wurfs“ down under. An diesem Sonntag Ende Januar in Melbourne scheint der 35-Jährige an seinem Sehnsuchtsziel angelangt zu sein. Sein Wälzen auf dem Boden, sein Schluchzen, das Überziehen der bereit liegenden Siegerjacke mit der „22“ sprechen dafür, dass dies Novaks Wahrnehmung an diesem Finalsonntag ist:

Endlich so etwas wie der Größte der Tenniswelt zu sein. Gestalt geworden in dieser „22“, die ihn zum Spieler mit den meisten Grand-Slam-Titeln erhöht. – Fast.

Das Faktische, das Djokovics Triumphszenerie überschattet: Rafael Nadal errang ebenfalls 22 Grand-Slam-Titel. Die machte der Spanier bereits 2022 fix.

Nicht einmal die glänzende Jacke ist Djokovic allein vorbehalten. Novaks Grand-Slam-Sieg-Jacke mit der „22“ kann jeder tragen, der beim Ausstatter dafür bezahlt.

Nun ist eine Zahl nur eine Zahl. Grand-Slam-Titel Nummer 21 für Nadal stammt von den Australian Open 2022. Die 22 von den French Open. Nadal, 36, ist auch so einer, der trotz krasser Schmerzen die höchsten Gipfel nicht leichten Herzens für die jungen Großen räumt. Der Ex-Champ, der heuer in Melbourne unter Schmerzen aufgeben musste und seine Frau dabei zum Weinen brachte. Der spanische Sandplatz-König, der von vielen Tennisfans als nicht von dieser Welt angesehen wird.

Federer auf der Fashion Week

Ähnlich wie Roger Federer. Der hat zwar „nur“ 20 Grand-Slam-Titel und ist im vergangenen Herbst einfach mal so zurückgetreten. Weil er’s konnte: Den „GOAT“-Zusatz hat der Schweizer mit seiner eleganten, scheinbar mühelosen Spielweise sowieso längst. Diese Ehre gestehen ihm nicht nur seine zahlreichen Anhänger zu. Während seine ehemaligen Rivalen in Australien auf den Courts schwitzen, schicken Roger und Gemahlin Bilder vom unbeschwerten Skifahren und von der Fashion Week in Paris um die Welt: Der „Maestro“ hat augenscheinlich die Szene in Richtung Jet Set gewechselt.

Via Instagram gratuliert Federer seinem einstigen Erz-Konkurrenten mit den Worten: „Incredible effort, again!“. Also zu dessen „unglaubliche(n) Bemühungen“.

Zu diesen Bemühungen gehört neben Weiterspielen trotz Verletzung, Djokovics Feilen an Strategie und Technik. So kam es, dass seine Rückhand die sonst so wirkungsvolle Vorhand seines fitten und elf Jahre jüngeren Gegners Stefanos Tsitsipas  einfing. – Dem „Greeks-do-it better“-Shirt einer Dame im Publikum zum Trotz.

Natürlich ist es eine Leistung, wenn ein Mann, der als Junge während eines Krieges sein Handwerk erlernte, Jahrzehnte später zum „GOAT“ geworden ist. Für den einen oder anderen, zumindest. Zugleich zur Nummer eins der Welt. Einmal mehr, wobei Djokovic durch seinen Sieg in Australien den nicht angetretenen, weil verletzten Teenager Carlos Alcaraz vom Thron der ATP-Weltrangliste gestoßen hat.

Einen jungen Spanier, der eine unglaubliche Karriere in kurzer Zeit hinlegte und vermutlich nur müde grinst, als Djokovic in seiner Siegesrede an die Jugend appelliert:

„Träumt groß“.

NoVak Djokovic bei den Australian Open 2023

Wer als 19-Jähriger auf Weltranglistenplatz eins angekommen war, darf an wahr gewordene Träume glauben.

Der 22-fache-Grand-Slam-Sieger Djokovic allerdings weiß, dass Träumen allein nicht genügt. Ohne unbedingten Willen geht nichts. Ob als Tennis-Wunderkind oder als 35-jähriger Champion. Über Wege und Methoden lässt sich vortrefflich streiten. Gerade, wenn es ums Anstreben und Erreichen von Rekorden geht.

Djokovic hat sein Revier ein weiteres Mal gekennzeichnet, als er nach seinem Sieg als Dankeskuss-Geste seinen Speichel auf dem Hartplatz verrieb.

Mit dem Pokal in Händen resümiert er:

„Je schwieriger die Kindheit ist, desto stärker kommt man raus.“

Novak Djokovic, nach seinem 22. Grand-Slam-Sieg

Tsitsipas hadert mit sich

Tsitsipas, der auch schon viele Jahre weit vorne mitspielt und doch erst 24 Jahre alt ist, scheint bei der Siegerehrung in Melbourne gerade noch seinen Vize-Titel-Silberteller von sich schleudern zu wollen. Fast verächtlich trägt er ihn. Doch im nächsten Augenblick, gratuliert der Grieche seinem serbischen Rivalen brav. Und überrascht mit einer Aussage über Djokovic, die rasant wie ein Ass auf die Zuhörer niedersaust: „Er ist der Größte, der je einen Tennisschläger in der Hand gehalten hat“.

Der 35-jährige Serbe hätte statt: „Träumt groß“, in Richtung junger Tennistalente auch sagen können: „Träumt weiter. Aber noch setze ich meine Ziele um.“

Und Tsitsipas hätte knapp raunzen können: „Gratulation zur 22. Und jetzt, wo Du scheinbar alles hast, was Du wolltest: Platz da!“. Das tat er nicht.

Mag sein, dass dem wohlerzogenen 24-Jährigen eine solche Bemerkung nicht einmal im Traum einfallen würde. So sagt Stefanos, der Novak 2021 in Paris schon einmal in einem Grand-Slam-Finale unterlegen war, wie ein Philosoph, der nichts lieber tut, als endlos lang seinem großen Traum entgegenzuwandern, bizarr demütig: „Ich habe mein ganzes Leben für diese Matches gearbeitet. Novak, Du holst das Beste aus mir heraus.“

Und: „Du hast alle gepusht, damit wir wachsen. Es ist nicht einfach, wieder im Finale zu verlieren. Ich werde weiter probieren, noch härter zu arbeiten, um das alles wieder zu erreichen“.

Kein Happy End also für so manchen, der vom Großsein träumt. Fortsetzung folgt.

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